Welche Rolle spielt die Arbeit grundsätzlich? Macht es einen großen Unterschied, ob ich einer intellektuell anspruchsvollen Tätigkeit nachgehe oder in der Fabrik am Fließband stehe?
Die Berufstätigkeit ist mitentscheidend für den Lebenssinn. In der Arbeitslosigkeitsforschung sagt man, wenn ein Mensch einen Job verliert, verliert er viel mehr als nur sein Gehalt - er verliert einen Großteil seines sozialen Umfeldes. Freundschaften resultieren oft aus Arbeitsverhältnissen und nicht zuletzt auch Partnerschaften und Ehen. Die gelingende Lebensführung, wie schon Aristoteles sie verstand, besteht zu einem wichtigen Teil in einer sinnerfüllten Tätigkeit, in der jeder Einzelne seine in ihm schlummernden Potenziale verwirklichen kann.
Dabei kommt es weniger auf die Art der Arbeit an als auf die Gesinnung, mit der man sie ausübt. Selbst häusliche Routinetätigkeiten können dem Leben Halt geben, wir sollten sie nicht gering schätzen: Bettenmachen, Staubsaugen, Einkaufengehen - das sind alles kleine Bausteine, die zeigen, dass man sich dem Leben verbunden fühlt.
Sagt sich das nicht ein wenig leicht, wenn man Wissenschaftler ist und einer kreativen Tätigkeit nachgeht?
Ich bin da einer Meinung mit dem Dalai Lama und jenen Psychologen, die sagen, dass über das Glück bei der Arbeit vor allem die innere Einstellung entscheidet - und was man an konkreten kleinen Schritten unternimmt, um Befriedigung in seiner Tätigkeit zu finden.
Man kann sich beispielsweise jeden Tag ein kleines Projekt vornehmen: Auch wenn ich am Fließband stehe, gibt es ja Arbeitspausen, in denen ich mit einem Kollegen ins Gespräch kommen kann, den ich noch nicht so gut kenne. Oder die griesgrämige Rezeptionistin, die werde ich morgen anlächeln und mit einem freundlichen Satz bedenken.
Papst Johannes XXIII. hat als junger Mann in sein Tagebuch geschrieben: "Alles Gewöhnliche, aber nicht auf gewöhnliche Weise." Damals war er Gesandter des päpstlichen Stuhls in Bulgarien, saß dort jahrelang auf einem unwichtigen Posten und wusste nicht so recht, was er dort sollte. Aber er hat die Herausforderung angenommen.
Schon der Kontakt mit anderen Menschen trägt also dazu bei, das Leben als bereichernd zu empfinden?
Lebenszufriedenheit ist eher den Tätigen und Eifrigen gegeben als den Trägen und Faulen. Zufriedene Menschen gestalten ihr Leben selbst. Sie treffen Entscheidungen und sind nicht nur Opfer der Verhältnisse.
Können demnach Menschen, die gelähmt oder schwer krank sind, also kaum noch eigenen Handlungsspielraum haben, keine Zufriedenheit, keinen Lebenssinn verspüren?
Ich erinnere mich an eine belgische Frau, die wollte unbedingt Mutter Teresa in Kalkutta helfen. Aber sie war gesundheitlich nicht in der Lage, Schwerkranke zu waschen oder mit Kindern zu spielen - und sagte: Ich fühle mich so unnütz. Mutter Teresa entgegnete ihr, du kannst beten. Gebet ist eine große Kraft, du kannst also sehr viel tun in deiner Nichttätigkeit.
Aber das beste Beispiel dafür, dass man nicht im herkömmlichen Sinne tätig sein muss, sondern einfach da sein kann, ist Jean Vanier, der Gründer der Arche, einer ökumenischen Gemeinschaft für Behinderte und Nichtbehinderte. Vanier lehrte an der Universität Toronto, hielt Vorlesungen, schrieb Bücher - und fiel mit 36 Jahren in eine große Sinnkrise. Dann hat er alles hingeschmissen, ein kleines Haus gekauft und zwei Schwerbehinderte aufgenommen. Er führte ein einfaches Leben, war nur für die beiden Menschen da. Er konnte sich nicht über das produktive Tätigsein definieren, sondern allein über das Zusammensein.
Im Leben mit den Behinderten, sagte er, habe er zum ersten Mal gelernt, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Hat er dafür Anerkennung bekommen?
Nein, im Gegenteil: Die Anerkennung, über die er sich bis dahin definiert hatte, wurde ihm geradezu verweigert. Seine Mitbewohner wussten nicht, was ein Doktortitel ist, was Geld bedeutet, was Einfluss ist. "Nackte Menschen vor einem nackten Mensch", so hat Vanier das beschrieben. Er konnte sie nicht durch seine Aktivität beeindrucken, sondern nur durch sein Dasein.
Das ist auch bei der Begleitung sterbender Menschen wichtig, da geht es nicht darum, ständig etwas zu tun, Kissen aufzuschütteln, etwas zu trinken zu holen oder permanent zu reden. Eine tiefe Begegnung besteht darin, schlicht da zu sein, dem Sterbenden die Hand zu halten, ihn zu begleiten.
Es sind also längst nicht immer die großen Tätigkeiten, die sinnerfüllend sein können, sondern auch die vermeintlich so unscheinbaren Dinge.
Wem dies fernliegt, wer lieber etwas für sich tut, etwas erleben will, auch aus egoistischen Motiven - ist der ein Sinnsucher zweiter Klasse?
Das sollte man nicht werten. Der Dienst für andere berührt einen Menschen sicher tiefer, aber persönliche Erlebnisse und Erfahrungen sind auch wichtig. Gerade in schwierigen Lebensphasen, etwa bei Krankheit oder nach einem Verlust, kann einem dies helfen.
Muss es dafür eine Krise geben?
Nein, auch im ganz normalen Leben kann es erfüllend sein, wenn man nach einiger Zeit sagen kann, jetzt kenne ich mehr interessante Menschen als zuvor, und ich habe etwas erlebt, was ich bislang noch nicht erlebt habe. Wir waren als Familie einmal in einem großen Freizeitpark, eine ganz profane Unternehmung. Man hat eine lange Anfahrt und gibt dort viel Geld aus. Aber mit etwas Glück hat man dann auch ein gemeinsames Erlebnis, von dem man lange zehren kann. Genauso ist das bei einem Konzert- oder Theaterbesuch.
Aber es ist nicht allen Menschen gegeben, so etwas genießen zu können. Ein Freund von mir ist Biobauer, ein großartiger Mensch. Er hat jedoch keinen Sinn für Erlebniswerte. Er tut sich schon schwer, mit den Kindern in den Zoo zu fahren, weil das Geld ausgegeben ist und der Zoobesuch vorbei. Er kauft ihnen lieber handfeste, nützliche Geräte.
Schließt sich das nicht gegenseitig aus: Besitztümer anzuhäufen und zugleich ein sinnvolles Leben zu führen?
Das Anhäufen von Eigentum ist sicher nicht sinnvoll. Aber wir sollten Dinge nicht zu gering schätzen. Zu vielen haben wir eine ganz persönliche Beziehung, etwa weil Erinnerungen daran hängen. Der Anthropologe Daniel Miller hat einmal eine Studie über den "Trost der Dinge" vorgelegt. Er hat 100 Wohnungen in einer gewöhnlichen Straße in Südlondon besucht und die Menschen nach ihren Besitztümern befragt. Gerade in schwierigen Lebensphasen, etwa bei Arbeitslosigkeit, konnten eine handsignierte Schallplatte oder eine Briefmarkensammlung dem Leben einen gewissen Halt geben. Daher ist es auch viel mehr als ein materieller Verlust, wenn Menschen ihr komplettes Hab und Gut etwa durch eine Flut verlieren. Ein Mann, dem das zugestoßen ist, sagte mir, er habe sich gefühlt, als habe er seine Schutzschicht verloren.
Es ist übrigens eine interessante philosophische Übung, sich vorzustellen, Ihr Haus sei akut einsturzgefährdet und ein Feuerwehrmann könne nur noch einmal hineingehen und gerade noch so viele Habseligkeiten herausholen, wie in zwei Einkaufswagen passen. Was würden Sie mitnehmen? Sicher etwas, was Ihrem Leben einen gewissen Halt und Struktur gibt, etwa ein Fotoalbum.
Erklärt das auch die Begeisterung für Oldtimer und die Wertschätzung des Beständigen - dabei verbindet sich ja Immaterielles mit Materiellem?
Jeder von uns drückt seine Identität auch mit Dingen aus. Ob das der seit vielen Jahren gehegte und gepflegte alte Wagen ist oder eine bestimmte Krawattenart, mit der man seine Persönlichkeit unterstreicht. Was ich besitze und schätze, ist sozusagen Teil meines erweiterten Selbst. Ich würde sogar vermuten, dass Sinnkrisen manchmal damit zusammenhängen, dass viele Menschen kaum noch langfristige Beziehungen zu materiellen Gegenständen haben, weil diese Dinge immer weniger Gebrauchs-, sondern vor allem Verbrauchsgüter sind: Löcher in der Kleidung werden nicht mehr gestopft, das neue Mobiltelefon ist schon nach zwei Jahren Elektroschrott, ebenso der Computer.
Sind die Renaissance des Selbermachens, die Gründung kleiner Reparaturwerkstätten und die Entdeckung regionaler Lebensmittel so etwas wie Zeichen für eine moderne Sinnsuche?
So kann man das sehen. Ein aufwendiges Essen aus guten Zutaten, das man eigens zubereitet hat, ein selbst gezimmertes Möbelstück, ein restauriertes altes Fahrrad, ein selbst geschriebener Brief - zu all dem hat man eine besondere Beziehung, darüber definiert man sich. Darum sind persönlich hergestellte Geschenke auch höchst sinnvoll, um eine Beziehung zu einem anderen Menschen zu gestalten. Selbst wenn sie neben der individuellen Komponente auch Geld kosten.
Ich bin kein Anhänger der These, dass Geld alles kaputt macht, denn meiner Ansicht nach kann man damit durchaus spirituelle Aspekte im weitesten Sinne zum Ausdruck bringen. Wenn unsere Kinder Geburtstag haben, schenken meine Frau und ich ihnen auch etwas, das Geld kostet. Aber damit signalisieren wir viel mehr als nur die Botschaft: Ich habe dir etwas Teures gekauft.
Kinder sind für viele Menschen ein enorm wichtiger Lebensinhalt. Lässt sich ohne Kinder ein ebenso sinnerfülltes Leben führen wie mit Kindern?
Ja, ohne Zweifel.
Kinder sind für viele Menschen gewissermaßen ein Stück Unsterblichkeit, weil etwas von uns in jemand anderem weiterlebt, der vielleicht wiederum Kinder hat. Für religiöse Menschen ist der Nachwuchs sogar oftmals der Sinn einer Ehe. Haben Kinder daher nicht eine Sonderstellung, was die Frage nach dem Lebenssinn angeht?
Auch darauf lautet die Antwort: ja. Es widerspricht sich nicht, wenn ich in beiden Fällen Ja sage. Eine Ehe kann selbst im Katholizismus in vollem Sinne eine Ehe sein, auch wenn sie kinderlos bleibt. Man würde allen kinderlosen Paaren ins Gesicht schlagen, wenn man ihnen sagen würde, ihr seid ein Ehepaar zweiter Ordnung.
Aber Sie sagen es letztlich doch, auch wenn Sie es wohl nur deshalb nicht aussprechen, weil Sie die Betroffenen nicht verletzen wollen.
Ich möchte damit sagen, dass es anmaßend wäre, anderen vorgeben zu wollen, was notwendige Bedingungen für ein erfülltes Leben sind. Es gibt kein festgelegtes Sinnspektrum, an dem ich mich wie an einer Liste abarbeiten kann.
Fällt es zumindest leichter, mit Kindern ein sinnerfülltes Leben zu führen?
In gewisser Weise ja, denn es stellen sich bestimmte Fragen nicht. Der Taufpate unserer Kinder ist Junggeselle, er muss immer Pläne machen: Was ist am Wochenende, wie verbringe ich Weihnachten? Wenn man wie ich drei Kinder hat, ist vieles vorbestimmt, der Freiraum ist kleiner, man wird gefordert, hat weniger Zeit zum freien Gestalten. Da entsteht nicht so schnell ein Vakuum im Leben, in dem die Sinnfrage einen plötzlich anspringt wie ein wildes Tier und man auf einmal ganz verzweifelt ist.
Kinder sind andererseits auch ein gutes Beispiel dafür, dass Sinnempfinden, Glück und Unbeschwertheit längst nicht immer miteinander einhergehen.
Der Autor Ian Brown hat das wundervoll in dem Buch "Der Junge im Mond" beschrieben, das von seinem Sohn Walker handelt. Der hat einen seltenen genetischen Defekt, schlägt sich selbst gegen Kopf und Ohren, neigt zur Selbstverstümmelung, schläft kaum. Ein hartes Leben. Nach neun Jahren häuslicher Betreuung geben seine Eltern den Jungen in ein Heim. Daraufhin beschreibt der Vater eine unglaubliche Leere - wie eine tiefe Wunde, die nicht verheilen will, denn Walker hatte seinem Leben Form gegeben. Er hat das Leben der Eltern unfassbar beschwerlich gemacht, aber ihm letztlich Sinn verliehen.
Es ist wohl so, dass man oft nicht bemerkt, was einem Leben Tiefe gibt, solange man selbst drinsteckt. Insofern ist es auch kein Wunder, dass sich viele Paare, nachdem Kinder das Haus verlassen, scheiden lassen. Dann spüren sie auch diese Leere, und drängende Fragen tauchen auf.
Wenn das Kind schwerstbehindert ist, dann fragen sich die Eltern sicher auch: "Wie kann das Leben unseres Sohnes von Sinn erfüllt sein?"
Ian Brown geht mehrere Möglichkeiten durch: Einer der behandelnden Ärzte sagte ihm, für Buddhisten sei der Sinn des Lebens, reines Dasein zu werden. Ein Leben also, das nicht über Intentionen, Projekte und Erfolge definiert wird. Da habe es sein Sohn weit gebracht. Oder, fragt Brown, ist das Leben von Walker nicht vielmehr ein Kunstwerk? Man fragt ja auch nicht, was ist der Sinn der Mona Lisa, sie existiert einfach.
Brown trifft schließlich den Arche-Gründer Jean Vanier, verbringt einige Zeit in dessen Haus. Dabei wird ihm klar, dass der Sinn von Walkers Leben vielleicht auch darin besteht, dass der Sohn es dem Vater ermöglicht, ein anderer Mensch zu werden, indem er ihn so aufopferungsvoll pflegt. Das verändere vielleicht sogar die Welt zu einem etwas langsameren, etwas verzeihenderen, etwas menschlicheren Ort.