Teil II: Das Schattenkind übernimmt die Kontrolle
Jahrzehnte später, Michael war weit über 30 und wohnte in Berlin Mitte. Er sah noch immer ein bisschen aus wie Paul McCartney, kleine Falten zogen sich um die großen braunen Augen. Viele seiner Freunde waren in der Kleinstadt geblieben, ihre Kinder stürmten nun auf den Fußballplatz, auf dem er früher zugeschaut hatte. Auch Michael wollte langsam an Familie denken, seit einigen Jahren wohnte er mit seiner Freundin Sabine zusammen. Er arbeitete viel, hatte Führungsverantwortung. Ein Mann der zweiten Reihe, hätte sein Vater gesagt. Oft lag er abends wach und dachte über den Tag nach, hätte ein Termin besser laufen können, war es seine Schuld, dass ein Kunde abgesprungen war. Waren andere Kollegen besser als er, wer würde es nach oben schaffen.
In seiner Nachttisch-Schublade lag ein Ring mit einem großen Stein, es war schon über ein Jahr her, dass er Sabine fragen wollte, ob sie ihn heiraten wollte. Damals im Urlaub hatte er ihn schon in der Tasche, auf dem Weg zum Abendessen kam der große Streit. Der Ring blieb im Jackett, wanderte in den Koffer, schließlich immer tiefer ins Nachtkästchen. Er spürte, dass Sabine darauf wartete, dass er sie fragte. Doch je stärker die Erwartung drückte, desto weiter schob der den Ring nach hinten.
Oft machte er Sabine für Dinge verantwortlich, die er am Tag darauf bereute. Wenn sie seine Lieblingswurst vergaß, um die er sie gebeten hatte, zum Beispiel. Für ihre Schwester, die am kommenden Wochenende zu Besuch kommen sollte, hatte sie eingekauft. Aber seine eine Bitte hatte sie vergessen. Er wurde so wütend, dass er sogar darüber nachdachte, Schluss zu machen. Ich bin ihr eben einfach nicht wichtig, dachte er. Alle anderen haben Priorität, nur ich nicht.
Michael sah sich als Opfer all dessen. Er arbeitete hart, wollte alles perfekt machen, kaufte die teuersten Klamotten. Er wollte alles kontrollieren, seine Fitness, seine Schritte, wann Sabine wo war, mit wem. Und doch war es nie genug, nie war er glücklich, nie konnte er ankommen. Die Situation mit Sabine wurde immer schwieriger, sie kam immer öfter spät nach Hause und er wusste nicht, wo sie war, da wurde er noch wütender. Am Wochenende fuhr sie zu ihren Eltern, sie schrieb ihm eine SMS, dass sie erst am Montagabend wiederkam. Er konnte nichts dagegen tun. Dann lag Michael alleine da, der Kopf voller Sätze, die ihm das Gefühl gaben, er sei wieder ein Kind.
Michaels inneres Schattenkind hatte die Kontrolle übernommen, über seinen Verstand und über sein Leben. Er stand an einem Scheideweg in seinem Leben. Würde er es schaffen, das Schattenkind zu kontrollieren, hätte er eine Zukunft mit Sabine. Würde er es nicht schaffen, wäre er alleine, der ewige Perfektionist, einsam und unglücklich. Noch lag die Entscheidung bei ihm.
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