Kalender 7 Minuten
Kalender Aktualisiert:22. Nov 2023

Das Gefühl, ständig gehetzt zu sein und kaum Zeit zum Luftholen zu haben, ist ein Symptom unserer Zeit. Wir haben mit Atemtrainerin Christine Schmid darüber gesprochen, was bewusstes Atmen bewirken kann.

So wirkt sich Stress auf den Atem aus

Weshalb fühlen sich viele Menschen heute so atemlos?

Unser Umgang mit Stress nimmt uns sprichwörtlich die Luft – zumindest dann, wenn wir nicht bewusst atmen. Stehen wir dauerhaft unter Strom, wird im Nervensystem der Sympathikus angesteuert. Das ist der Nerv, der dafür verantwortlich ist, dass wir leistungsfähig sind, in Alarmbereitschaft bleiben und einen erhöhten Puls, Herzschlag und Blutdruck haben. Der Sympathikus ist im Dauereinsatz und der Körper steht unter Spannung, weil er das Signal bekommt, jeden Moment reagieren zu müssen.

Was bewirkt das?

Für unser Nervensystem ist Stress gleich Stress. Es kann nicht unterscheiden zwischen einem Auto, das auf uns zugerauscht kommt und vor dem wir uns in Sicherheit bringen müssen, und dem Stress durch Telefonate, Zeitdruck und Kinder im Homeschooling. Der Körper stellt sich auf den Dauerstress ein, wir atmen über einen längeren Zeitraum meist unregelmäßig und flach. An hohen Stresspunkten setzt der Atem manchmal sogar ganz aus. Viele Menschen nutzen tatsächlich gerade mal 20 Prozent ihres Lungenvolumens. Dieser Zustand verfestigt sich zu einem individuellen Atemmuster, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind.

Wie geht "richtig atmen"?

Das heißt, wir atmen falsch?

Es gibt beim Atmen für mich kein Richtig oder Falsch. Das Atemmuster macht lediglich sichtbar, wie jemand lebt. Es ist wie ein Fingerabdruck und verrät zum Beispiel, ob sich eine Person oft ärgert, ihr Loslassen schwerfällt oder sie häufig grübelt. Wenn erholsame Pausen und Phasen der Entspannung fehlen oder man Gefühle wie Wut, Ärger oder Trauer häufig unterdrückt, kann so eine Lebensstruktur einhergehen mit Motivationslosigkeit, ständiger Müdigkeit, dunklen Gedanken oder sogar depressiven Zuständen.
 
Als Atemtrainerin sehe ich mir immer als Erstes an, wie der Atem eines Menschen fließt. Fließt er kontinuierlich oder fließt der Einatem leichter als der Ausatem? Ist er flach oder eher tief? Kann der Atem nur in den Bauch fließen oder kommt auch etwas auf der Rückseite des Körpers an? Ist überhaupt ein Fluss zu erkennen? Sind da Pausen? Wie viel Atem kann in den Körper ein- und ausströmen? Und wo hat ein Mensch seinen Atem und damit seine Gefühlsräume vielleicht auch ganz verschlossen?
 
Was genau meinst du damit?

Der Körper ist wie eine Art Archiv: Alles, was wir erleben, speichert er in gewisser Form und erzählt es auch. Damit können wir im Atemtraining arbeiten, denn Atemmuster lassen sich verändern. Durch die Bauch-Zwerchfell-Atmung, mit der ich arbeite, erreicht man mehr Ausgeglichenheit und Lebensfreude. Schmerzen, Ängste und Blockaden können sich lösen, man kommt in Kontakt mit den eigenen Gefühlen.

Im Alltag stockt uns der Atem, oder wir halten die Luft an, wenn wir zum Beispiel Wut oder Traurigkeit spüren. Auf der Übungsmatte darf jedes Gefühl sein. Indem wir weiteratmen und es annehmen, verändert sich das Gefühl allmählich und übermannt uns nicht länger.

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Bewusstes Atmen für Anfänger:innen

Wie kann ich ein Bewusstsein für meinen Atem entwickeln?

Anfänger:innen empfehle ich, ihren Atem ein paar Tage zu beobachten und sich Notizen zu machen: Wie ist denn mein Atem? Wo fließt er hin? Wie nehme ich meinen Körper dabei wahr? Fühle ich Spannung oder Entspannung? Atme ich viel durch den Mund, habe ich oft eine verstopfte Nase? Das kann ein erster Schritt sein, bevor man ein Atemcoaching beginnt. Durch regelmäßiges Üben entwickeln wir ein Bewusstsein für unseren Atem und nehmen unsere Bedürfnisse auch im Alltag besser wahr. Dadurch finden wir letztlich zu innerer Stärke. Mein Leben hat das grundlegend verändert.

Das musst du uns genauer erzählen…

Bevor ich als Atemtrainerin meine Berufung fand, habe ich viele Jahre als Ressortleiterin in einer Zeitschriftenredaktion gearbeitet. Ich brannte für meinen Job und ging voll darin auf. Dass ich oft 60 bis 70 Stunden pro Woche arbeitete, nahm ich in Kauf. Ich kannte kein Maß, und wenn mein Körper mir die Überlastung durch Kopfschmerzen oder andere Symptome signalisiert hat, fand ich das lästig. Ich wollte mit Vollgas auf der Überholspur bleiben.

Doch irgendwann kam ich an einen Punkt, an dem ich spürte: So will ich nicht weitermachen. Ich hatte wahnsinnig viel Spannung im Körper, starke Kopfschmerzen, meine Blutwerte waren nicht in Ordnung. Da habe ich beschlossen, ein Sabbatical zu nehmen. Nach den ersten drei Monaten Auszeit erlebte ich eine echte Einsicht: Ich sah mir meinen Kalender an und der war genauso voll wie zu Redaktionszeiten. Erst da ist mir klar geworden, dass ich in der gleichen Struktur weitergemacht hatte wie bisher. Da habe ich begriffen, dass ich grundlegend etwas ändern muss, wenn ich anders leben möchte.

Für bewusstes Atmen ist immer Zeit und Gelegenheit

Wie lebst du heute?

Durch das Atemtraining habe ich einen Zugang zu meinen Gefühlen und Bedürfnissen gefunden. Das war für mich die Basis aller weiteren Veränderungen. Heute lebe ich bewusster und fühle mich unabhängig und frei. Gleich morgens mache ich die ersten Atem- und Dehnübungen im Bett und meditiere 25 Minuten in Stille. Ich bin auch meinem Körpergefühl viel nähergekommen und ernähre mich anders als früher: Ich nehme mir Zeit, statt hektisch nebenbei etwas auf die Hand zu essen.

Wenn ich heute in einer stressigen Phase stecke und im ganzen Körper Anspannung spüre, hilft es, mir meinen Atem bewusst zu machen. Das geht überall: an der Supermarktkasse, im Zug, auf einer Parkbank. Ich lege beide Hände auf meine Körpermitte unterhalb des Bauchnabels, nehme tiefe Atemzüge und spüre in mich hinein. Das bringt mich wieder in Balance. Ich brenne immer noch leidenschaftlich für die Dinge, die ich tue. Aber dadurch, dass ich mich durch meinen Atem immer wieder mit mir selbst verbinde, finde ich inzwischen ein gesundes Maß.

 

© Interview: Sarah Klüss, aus dem FLOW Magazin, Ausgabe 7, 2021.
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