Frau Professor Perrig-Chiello, seit etwa 40 Jahren gibt es den Begriff der „Midlife-Krise“ im allgemeinen Sprachgebrauch. Hat er überhaupt einen wissenschaftlichen Kern, oder ist er nur ein populäres Etikett für seltsame Verhaltensweisen von Frauen und Männern in der Lebensmitte?


PASQUALINA PERRIG-CHIELLO: Lange Zeit war es so: Klinische Psychologen, die vor allem mit Menschen mit ernsthaften Problemen arbeiten, sagten „Ja, so etwas wie eine Midlife-Krise gibt es tatsächlich“. Sie beobachteten sie gewissermaßen in ihrem Berufs- und Lebensalltag. Entwicklungspsychologen, die sich eher die Gesamtheit der Bevölkerung anschauen, verneinten dies eher.
Für sie waren kritische Phasen in der Lebensmitte schlicht ein individuelles Ereignis – also keines, das alle Menschen gleich bewältigen.
Mittlerweile gibt es aber viele Studien, die keinen Zweifel mehr daran lassen: Trotz aller individuellen Unterschiede ist das mittlere Lebensalter generell eine krisenanfällige Zeit, eine beunruhigende Phase, häufig voller Selbstzweifel und Mutlosigkeit – ähnlich wie die Pubertät oder die Pensionierung, die ja ebenfalls in fast jedem Lebenslauf wichtige, oft krisenhafte Übergangsphasen sind.
Wie schwierig die Lebensmitte für viele ist, lässt sich auch an bestimmten Daten ablesen. So zeigen Erhebungen: Die meisten Fälle von Depression oder Burnout treten mit Ende 40 auf, ebenso fallen in dieses Alter die meisten Ehescheidungen. Krisen in dieser Phase können somit sehr unterschiedlich aussehen. Während die einen vielleicht in der Partnerschaft zu kämpfen haben, bahnt sich bei anderen im Beruf eine Krise an.


Gibt es nichts, was diese Krisen in der Lebensmitte eint?


Doch – denn so facettenreich die Probleme auch sein mögen, eine Frage tritt oft auf: die nach dem Sinn. Welchen Sinn hat meine Arbeit? Welchen Sinn meine Beziehung? Welchen Sinn mein Leben? Hatte ein Mensch bis dahin noch eine Perspektive, ein Ziel für sein Streben, so geht es vielen von uns in der Lebensmitte oft verloren. Etliches erscheint erreicht, gewohnt, etabliert. Schmerzlich wird uns bewusst, dass wir nicht mehr alle Pläne verwirklichen können – und Angst plagt uns, das Leben nicht „gelebt“ zu haben, ein „falsches“ Leben aufgebaut zu haben.
Leider nehmen viele Menschen diese Fragen und Ängste zu wenig ernst, auch weil ihr Umfeld eher darüber lächelt. „Midlife Crisis“ ist für viele eher übertriebenes Gebaren als ernst zu nehmendes Problem. Doch gerade diese Fragen und Ängste sind es, die uns dann in tiefere Krisen stürzen: Manche arbeiten dann beispielsweise über das gesunde Maße hinaus, oder sie vernachlässigen den Partner oder ignorieren ihre Bedürfnisse nach Erholung.


Wovon ist es abhängig, wie jemand mit diesen Fragen und Ängsten umgeht?


Entscheidend sind die individuellen Persönlichkeitsfaktoren: Ein offener, aktiver Mensch, der sich vorausdenkend mit kommenden Veränderungen befasst, hat es etwas leichter, diese Veränderungen auch zu akzeptieren. Anders ist das bei Menschen, die viel Wert auf Routinen legen, die auf Sicherheit bedacht sind, die eher ängstlich und neurotisch sind: Die verlieren bei solchen Fragen schnell mal den Boden unter den Füßen.
Das gilt auch für Menschen, die über Veränderungsprozesse nicht reden können oder wollen.


Gibt es Geschlechtsunterschiede?


Frauen und Männer haben zwar gleichermaßen Probleme in der Lebensmitte, aber Frauen tauschen sich generell mehr mit anderen aus und kommen daher meist besser durch diese Zeit.
So haben wir in einem unserer Forschungsprojekte die Probanden gefragt: „Zu wem gehen Sie, wenn Sie ein großes persönliches Problem haben?“
Die Männer haben dann unisono geantwortet, fast vorwurfsvoll: „Selbstverständlich zu meiner Frau!“ Sie sind extrem partnerzentriert; mit ihren Freunden reden sie zwar auch viel, allerdings über andere Themen wie etwa den Beruf oder ihre Hobbys, kaum aber über persönliche Angelegenheiten.
Die Frauen dagegen haben auf die gleiche Frage geantwortet: „Ich gehe zu meiner Mutter, zu meiner Schwester, zu meiner Freundin ...“ Der Mann als Ansprechpartner war einer unter anderen.


Welche Folgen haben diese Geschlechtsmuster?


Sie führen dazu, dass heftige Krisen der Lebensmitte häufiger bei Männern zu beobachten sind. Und die damit manchmal verbundenen radikalen Brüche. Manche geben von heute auf morgen den Job auf; andere gehen ins Kloster – oder verlassen sogar die Familie, gehen womöglich eine Beziehung mit einer jüngeren Partnerin ein.
Männer machen in der Regel viel kompromisslosere Schritte als Frauen, weil sie zuvor mehr verdrängt, verschwiegen und verleugnet haben. Frauen flüchten weniger drastisch, sie holen sich eher Hilfe, wie Studien belegen.
Mit zunehmendem Alter ist es dann allerdings etwas anders. Dann entschließen sich auch Frauen vermehrt, beispielsweise die Beziehung zu verlassen. Sie wissen, dass sie noch länger bei besserer Gesundheit sein werden, suchen dann aktiv noch einmal Unabhängigkeit.

Man sollte meinen, die heute 40-Jährigen seien in einer ganz anderen Welt groß geworden als die Generation vor ihnen. Und sie würden auch einen anderen Kommunikationsstil pflegen.


Wir Forscher haben das auch gedacht, doch tatsächlich ist in Bezug auf den Umgang mit Problemen immer noch vieles beim Alten.
Frauen haben ihre breiten sozialen Netze, Männer dagegen wollen das meist mit sich selbst ausmachen oder allenfalls mit der Partnerin.
Wir sehen das auch an der Suizidrate, die schnellt bei Männern ab etwa 60 bis 65 Jahren steil nach oben, während sie bei den Frauen über die Jahre fast stabil bleibt.
Wenn Männer ihre Probleme nicht mehr mit Kraft oder Macht lösen können, ertränken sie ihre Sorgen häufiger als Frauen in Alkohol – und mitunter fällt ihnen dann kein anderer Ausweg ein, als sich der Situation durch Suizid zu entziehen.
In der Psychologie heißt es zuweilen plakativ: „Frauen leiden, Männer suizidieren.“ Das ist natürlich so all gemein gesagt nicht wahr, aber im Kern gibt es diese Tendenz.


Wie kommt es zu diesen Geschlechtsunterschieden?


Das liegt nach wie vor primär an der Sozialisation. Noch heute ist das nach außen gewendete Verhalten vor allem eine Sache der Jungen, sie lösen Konflikte eher mit Aggression, versuchen sich zu behaupten. Sie unterliegen einem stärkeren Geschlechterrollenstress als die Mädchen. Jungen müssen sich noch immer „männlich“ verhalten, Mädchen haben da größere Freiräume.


Kann einem der Lebensverlauf bis in die Lebensmitte einen Hinweis darauf geben, ob man in eine größere Krise gerät oder gut mit der Situation zurechtkommt?


Ja, das kann durchaus der Fall sein. Denn unsere Studien zeigen, dass Menschen, die auch zu früheren Zeitpunkten Probleme mit biografischen Übergängen gehabt haben, also etwa in der Pubertät oder mit dem Berufseintritt, oft von einer zur nächsten Krise stolpern.
Sie haben häufig Beziehungsprobleme, hadern mit ihrem Job, verzweifeln, wenn sie berufsbedingt in eine neue Stadt ziehen müssen oder krank werden. Wir sprechen von einem „self-made disaster“. Erstaunlich ist, dass Betroffene offenbar nur wenig daraus lernen. Sie fallen immer wieder in falsche Bewältigungsmuster zurück.


Und das ist nicht zu verhindern?


Doch, aber dazu bedarf es besonderer Ereignisse. Das kann die Begegnung mit einem Menschen sein, der einem neue Perspektiven eröffnet. Oder in einer Krise die Einsicht, dass man psychologische Hilfe braucht.


Muss das eine professionelle Therapie sein?


Nicht unbedingt. Letztlich hilft jedes Gespräch, jede Beratung, die einen dazu motiviert, einmal innezuhalten. Eine Beratung, die einem Verhaltensmuster aufzeigt und neue Perspektiven anbietet. Entscheidend ist: Man muss entdecken, dass man nicht nur ein Spielball der Umstände und der eigenen Biografie ist, sondern eine Selbstverantwortlichkeit hat und die auch wahrnehmen kann.
Ich habe in vielen Projekten gearbeitet, in denen wir nach den Voraussetzungen für Wohlbefinden und Gesundheit gesucht haben, wir haben das Rauchverhalten der Probanden untersucht, ihre Essensgewohnheiten und anderes.
Am Ende war die stärkste Determinante die Selbstverantwortlichkeit: also die Einsicht, dass man größtenteils selbst für seinen Lebensweg verantwortlich ist – und man also nicht die Eltern, den Partner, die Gesellschaft oder das Schicksal dafür verantwortlich machen kann.

Bis dahin muss man aber möglicherweise einige Desillusionierungen durchleben, sich von alten Träumen verabschieden.


Das Aufgeben von Illusionen ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe des mittleren Lebensalters. Wer nie desillusioniert wurde, hat nie die Chance, durchzustarten und etwas Neues zu wagen. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung hat einmal gesagt, man könne die zweite Lebenshälfte nicht nach dem Muster der ersten leben. Viele Menschen begreifen das nur durch eine Krise, die sehr schmerzhaft sein kann, aber auch heilsam.

Man muss durch ein tiefes Tal gehen, damit es einem nachher besser geht?


Gewissermaßen ja. Wir wissen aus länderübergreifenden Studien, dass diese Talsohle ein fast universelles Phänomen ist. Bei Befragungen in mehr als 80 Ländern, in Industriestaaten, aber auch etwa in Simbabwe und Mexiko, hat sich immer wieder herausgestellt, dass die Kurve von Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden U-förmig verläuft – unabhängig von Familienstand, Einkommen oder Geschlecht.


Erklären Sie das bitte.


In der Jugend fühlen sich Menschen tendenziell stark und zufrieden, leben beflügelt von Hoffnungen und großen Erwartungen. Ab Mitte 30 aber beginnen sie, Wunsch und Wirklichkeit immer häufiger zu vergleichen – und das Glücksgefühl nimmt stetig ab, bis es einen Tiefpunkt erreicht. In Europa ist das bei 46 Jahren der Fall, in Schwellenländern bei 43 Jahren. Viele Menschen sind dann enttäuscht von der Vergangenheit und zugleich wenig hoffnungsvoll für die Zukunft, die zweite Lebenshälfte erscheint vielen geradezu bedrohlich.
Nach ein paar Jahren allerdings vermögen die Menschen dann wieder das Gute zu sehen, sie schätzen, was sie erlebt haben und noch erleben können. Die Zufriedenheit nimmt im Durchschnitt wieder zu – und wird mitunter größer als je zuvor.

Wie kommt das?


Die Gewissheit, dass sich das Leben geordnet hat, scheint geradezu zu entlasten. Die Menschen sind nun krisenerprobt und gelassener, kurzum: Die meisten haben die Lektionen des Lebens gelernt. Man kann das Lebenserfahrung oder Reife nennen. Außerdem haben sie sich endgültig beruflich etabliert, verdienen oft mehr Geld als zuvor im Leben, und die Kinder sind nun eher eigenständig, in der Regel auch schon an einem eigenen Wohnort.


Was ist aus Ihrer Sicht das Charakteristische an der Lebensmitte?


Viele Menschen stellen rund um den 40. Geburtstag die ersten Zeichen des Alterns an sich fest. Zudem sind die Kinder in einer problematischen Phase, die Eltern werden alt und zunehmend hilfsbedürftig, und viele fühlen sich wie in einem Hamsterrad.
Man wird sich der eigenen Endlichkeit bewusst, fragt sich, was habe ich erreicht, was will ich noch erreichen, zieht also Bilanz. Man zählt nicht mehr die Jahre nach der Geburt, sondern schaut eher auf die Zahl der Jahre, die wohl noch vor einem liegen.
Kinderlose Frauen in diesem Alter fühlen sich plötzlich im Wettlauf mit der biologischen Uhr. Insbesondere Männer fragen sich, ob es beruflich nun noch Jahrzehnte so weitergehen soll, sie bleiben in Sackgassen stecken, werden vielleicht von Jüngeren überholt. Es ist daher auch eine Phase der Neudefinition des Lebens, der Übernahme neuer Rollen, eben ein Übergang in die zweite Lebenshälfte.


Ist das Hamsterrad-Gefühl einer der Gründe dafür, dass in der Lebensmitte auch die Fälle von Burnout-Syndrom zunehmen?


Dieses Permanent-am-Limit-Sein ist heute tatsächlich ein Kennzeichen der Lebensmitte. Die Jüngeren setzen sich allerdings mittlerweile weitaus mehr mit Fragen der Balance zwischen Arbeit und Freizeit auseinander – und werden so künftig womöglich leichter durch die Lebensmitte kommen.


Woran fehlt es Frauen und Männern in dieser Zeit am meisten?


Wir haben in einer Studie eine sehr starke Diskrepanz festgestellt zwischen der Zeit, die Menschen in den Beruf, den Partner, Kinder und Freizeit investieren müssen – und dem, was sie eigentlich möchten. Viele wünschen sich, weniger Zeit für den Beruf aufzuwenden und mehr Zeit für die Partnerschaft zu haben. Aber das eindrücklichste Ergebnis war, dass sich fast alle wünschen, mehr Zeit für sich selber zu haben.


Bei Frauen und Männern gleichermaßen?


Durchaus, allerdings mit einem Unterschied: Die meisten Männer möchten auch mehr Zeit für die Kinder haben, die Frauen eher weniger, dafür aber mehr Zeit für den Beruf. Das gilt übrigens für Alleinerziehende ebenso wie für verheiratete Frauen, die berufstätig sind oder waren. Praktisch alle Frauen gaben an, dass die Mutterrolle sie zeitlich weitaus mehr beansprucht hatte, als ihnen eigentlich lieb war.


Und am Ende sind sie mehr als ihre Männer erleichtert, wenn die Kinder aus dem Haus sind?


Solange die Kinder noch daheim wohnen, sehen sowohl Männer als auch Frauen den bevorstehenden Auszug vor allem positiv. Befragt man die Eltern aber nach dem Auszug, so zeigt sich, dass die Väter den Auszug deutlich ambivalenter sehen, sogar eher negativ.
Die Mehrheit der Frauen ist froh, dass sie den Nachwuchs endlich loslassen kann. Die Männer haben sich dagegen oft völlig verschätzt, wie Studien zeigen, sie sind häufig tief betrübt über den Auszug der Kinder. Viele haben den Eindruck, etwas verpasst zu haben: Sie haben alles für den Beruf gegeben, hätten aber gern mehr mit den Söhnen oder Töchtern gemacht – und dann ist es plötzlich zu spät. Und wenn die Kinder nun aus dem Haus sind, sind es trotzdem immer noch die Frauen, die den Kontakt halten, sei es durch Telefon oder Kurznachrichten oder durch das Waschen der Wäsche, die der Nachwuchs nach Hause trägt.

Erstaunlich – jetzt müssten doch vor allem die Männer den Impuls haben, die Bande zu erhalten.


Ja, aber es gelingt offenbar nicht allen, die alten Muster tatsächlich zu durchbrechen, neue Verhaltens- und Kommunikationsweisen mit den Kindern zu entwickeln. Und wenn, dann eher in neuen Beziehungen: Männer, die in der Lebensmitte noch einmal Kinder mit einer jüngeren Partnerin haben, präsentieren sich oft als ganz andere Väter, haben viel mehr Zeit für die Kinder.
Das liegt nicht nur an den Erwartungen der Frauen, sondern ist auch ein Kompensationsverhalten der Männer.


Viele Männer und Frauen wünschen sich in der Lebensmitte mehr Zeit für sich selbst. Entwicklungspsychologen haben erkannt, dass es wichtig ist, in dieser Phase auch Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, etwa im karitativen Bereich. Wie passt das zusammen?


Der deutsch-amerikanische Psychologe Erik H. Erikson hat davon gesprochen, dass Menschen in der Lebensmitte vor der Entscheidung zwischen „Generativität und Stagnation“ stehen. Vor der Frage, ob sich alles nur um das eigene Ich drehen soll, was nach Erikson dazu führt, dass man in seiner Entwicklung stagniert – und am Ende Leerlauf und Sinnleere spürt. Oder ob man ein Bedürfnis entwickelt, Werte für die kommende Generation zu schaffen und weiterzugeben – was, so Erikson, in der Regel als Bereicherung der eigenen Persönlichkeit empfunden wird.
Ich sehe das ein wenig anders: mehr Zeit für sich und ein Engagement für die Gesellschaft schließen sich nicht aus. Denn nur wer die Zeit dafür hat, in sich zu gehen, kann etwa feststellen, dass die Fixierung beispielsweise auf den Beruf ihn nicht weiterführt, sondern stagnieren lässt. Viele Menschen kommen durch das Innehalten überhaupt erst auf die Idee, sich auch für andere einzusetzen – etwa wenn sie sich die Frage stellen, welche Spuren im Leben sie hinterlassen können, auch wenn sie keine Kinder haben.


Diese Ichbezogenheit in der Lebensmitte wäre demnach eher eine Übergangsphase?


So ist es. Ich würde das als „Radikalität des Nullpunkts“ bezeichnen. Man braucht in Krisenzeiten diese Konzentration auf sich selbst, um danach wieder offen für Neues zu sein.
Dafür braucht es Zeit – bei den meisten dauert der Prozess rund zwei Jahre. Viele empfinden dann ein tieferes Bewusstsein für Spiritualität, spüren einen Bezug zu einer Kraft, die größer zu sein scheint als sie selbst. Andere entdecken neue Möglichkeiten, sich zu entfalten, erleben Beziehungen intensiver oder schätzen das Leben insgesamt mehr als zuvor.


Erhöhen die Krisen rund um die Lebensmitte also letztlich tatsächlich die Lebenszufriedenheit?


Da bin ich mir sehr sicher. Bislang ist das Thema Lebenszufriedenheit und Glück vor allem mit Religiosität und Spiritualität in Verbindung gebracht worden. Aber auch die Generativität, der Einsatz für die kommende Generation, hat dieses Potenzial. Dabei hat dieser Einsatz für andere zweifellos auch eine starke egozentrische Komponente. Im Grunde ist es purer Egoismus, dass wir uns generativ verhalten.


Wer anderen hilft, hilft auch sich selbst?


Ganz genau. Wer anderen hilft, dem geht es selber gut. Und wer das begriffen hat, der macht das auch für sich selbst.


Haben Ihre Forschungen über die Krisenanfälligkeit der mittleren Jahre auch bei Ihnen persönlich zu Veränderungen geführt?


Ich habe mein Leben im Alter von 40 Jahren radikal verändert. Ich hatte sehr früh Karriere gemacht, mit 28 den Doktortitel erworben, dazu zwei Kinder bekommen, alles im Schnelltempo. Im Anschluss kam eine therapeutische Ausbildung. Ich arbeitete dann therapeutisch und unterrichtete an einer Schule für Sozialarbeit.
Irgendwann habe ich mich die immer gleichen blöden Witze im Unterricht erzählen hören. Zudem empfand ich die Probleme der Patienten in den Therapiesitzungen als sehr belastend. Mir wurde klar, das kann ich nicht 20 oder 30 Jahre lang so weitermachen. Hinzu kam ein Bandscheibenvorfall, der mich einen Monat in die Waagerechte zwang. Da hatte ich viel Zeit, in mich zu gehen. Ich habe beschlossen, zu habilitieren und an eine Universität zurückzugehen. Und plötzlich bekam ich die Gelegenheit. Das war relativ spät, mit 40, aber ich wusste: Das will ich!


Hätten Sie der Krise vorbeugen können?


Vielleicht. Denn was ich als Therapeutin getan habe, hat mir sehr lange Freude und Erfüllung gebracht. Und ich habe versucht, daran festzuhalten. Umso frustrierter war ich, als dieses Gefühl allmählich schwand. Wer einer Krisenzeit vorbeugen möchte, sollte sich bemühen, Strukturen, Gefühle, Zustände nicht erstarren zu lassen. Vielmehr sollte man versuchen, beweglich zu bleiben, experimentierfreudig, neugierig – und die Fähigkeit stärken, seinen Selbstwert nicht allzu stark von äußeren Bedingungen abhängig zu machen.
Das macht nicht immun gegen Krisen in der Lebensmitte. Aber es hilft, diese vergleichsweise sanft zu überstehen.


Die Psychologin und Psychotherapeutin, Jg. 1952, war bis 2016 Honorarprofessorin am Institut für Psychologie der Universität Bern. Schwerpunkte ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit sind die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Beziehungen zwischen den Generationen sowie Wohlbefinden im Alter. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, unter anderem „In der Lebensmitte. Die Entdeckung des mittleren Lebensalters“ – eines mit vielen anschaulichen Beispielen und Fotos gestalteten Forschungsberichts.

 

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Interview: Claus Peter Simon