Wie kommt das?
Die Gewissheit, dass sich das Leben geordnet hat, scheint geradezu zu entlasten. Die Menschen sind nun krisenerprobt und gelassener, kurzum: Die meisten haben die Lektionen des Lebens gelernt. Man kann das Lebenserfahrung oder Reife nennen. Außerdem haben sie sich endgültig beruflich etabliert, verdienen oft mehr Geld als zuvor im Leben, und die Kinder sind nun eher eigenständig, in der Regel auch schon an einem eigenen Wohnort.
Was ist aus Ihrer Sicht das Charakteristische an der Lebensmitte?
Viele Menschen stellen rund um den 40. Geburtstag die ersten Zeichen des Alterns an sich fest. Zudem sind die Kinder in einer problematischen Phase, die Eltern werden alt und zunehmend hilfsbedürftig, und viele fühlen sich wie in einem Hamsterrad.
Man wird sich der eigenen Endlichkeit bewusst, fragt sich, was habe ich erreicht, was will ich noch erreichen, zieht also Bilanz. Man zählt nicht mehr die Jahre nach der Geburt, sondern schaut eher auf die Zahl der Jahre, die wohl noch vor einem liegen.
Kinderlose Frauen in diesem Alter fühlen sich plötzlich im Wettlauf mit der biologischen Uhr. Insbesondere Männer fragen sich, ob es beruflich nun noch Jahrzehnte so weitergehen soll, sie bleiben in Sackgassen stecken, werden vielleicht von Jüngeren überholt. Es ist daher auch eine Phase der Neudefinition des Lebens, der Übernahme neuer Rollen, eben ein Übergang in die zweite Lebenshälfte.
Ist das Hamsterrad-Gefühl einer der Gründe dafür, dass in der Lebensmitte auch die Fälle von Burnout-Syndrom zunehmen?
Dieses Permanent-am-Limit-Sein ist heute tatsächlich ein Kennzeichen der Lebensmitte. Die Jüngeren setzen sich allerdings mittlerweile weitaus mehr mit Fragen der Balance zwischen Arbeit und Freizeit auseinander – und werden so künftig womöglich leichter durch die Lebensmitte kommen.
Woran fehlt es Frauen und Männern in dieser Zeit am meisten?
Wir haben in einer Studie eine sehr starke Diskrepanz festgestellt zwischen der Zeit, die Menschen in den Beruf, den Partner, Kinder und Freizeit investieren müssen – und dem, was sie eigentlich möchten. Viele wünschen sich, weniger Zeit für den Beruf aufzuwenden und mehr Zeit für die Partnerschaft zu haben. Aber das eindrücklichste Ergebnis war, dass sich fast alle wünschen, mehr Zeit für sich selber zu haben.
Bei Frauen und Männern gleichermaßen?
Durchaus, allerdings mit einem Unterschied: Die meisten Männer möchten auch mehr Zeit für die Kinder haben, die Frauen eher weniger, dafür aber mehr Zeit für den Beruf. Das gilt übrigens für Alleinerziehende ebenso wie für verheiratete Frauen, die berufstätig sind oder waren. Praktisch alle Frauen gaben an, dass die Mutterrolle sie zeitlich weitaus mehr beansprucht hatte, als ihnen eigentlich lieb war.
Und am Ende sind sie mehr als ihre Männer erleichtert, wenn die Kinder aus dem Haus sind?
Solange die Kinder noch daheim wohnen, sehen sowohl Männer als auch Frauen den bevorstehenden Auszug vor allem positiv. Befragt man die Eltern aber nach dem Auszug, so zeigt sich, dass die Väter den Auszug deutlich ambivalenter sehen, sogar eher negativ.
Die Mehrheit der Frauen ist froh, dass sie den Nachwuchs endlich loslassen kann. Die Männer haben sich dagegen oft völlig verschätzt, wie Studien zeigen, sie sind häufig tief betrübt über den Auszug der Kinder. Viele haben den Eindruck, etwas verpasst zu haben: Sie haben alles für den Beruf gegeben, hätten aber gern mehr mit den Söhnen oder Töchtern gemacht – und dann ist es plötzlich zu spät. Und wenn die Kinder nun aus dem Haus sind, sind es trotzdem immer noch die Frauen, die den Kontakt halten, sei es durch Telefon oder Kurznachrichten oder durch das Waschen der Wäsche, die der Nachwuchs nach Hause trägt.
Erstaunlich – jetzt müssten doch vor allem die Männer den Impuls haben, die Bande zu erhalten.
Ja, aber es gelingt offenbar nicht allen, die alten Muster tatsächlich zu durchbrechen, neue Verhaltens- und Kommunikationsweisen mit den Kindern zu entwickeln. Und wenn, dann eher in neuen Beziehungen: Männer, die in der Lebensmitte noch einmal Kinder mit einer jüngeren Partnerin haben, präsentieren sich oft als ganz andere Väter, haben viel mehr Zeit für die Kinder.
Das liegt nicht nur an den Erwartungen der Frauen, sondern ist auch ein Kompensationsverhalten der Männer.
Viele Männer und Frauen wünschen sich in der Lebensmitte mehr Zeit für sich selbst. Entwicklungspsychologen haben erkannt, dass es wichtig ist, in dieser Phase auch Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, etwa im karitativen Bereich. Wie passt das zusammen?
Der deutsch-amerikanische Psychologe Erik H. Erikson hat davon gesprochen, dass Menschen in der Lebensmitte vor der Entscheidung zwischen „Generativität und Stagnation“ stehen. Vor der Frage, ob sich alles nur um das eigene Ich drehen soll, was nach Erikson dazu führt, dass man in seiner Entwicklung stagniert – und am Ende Leerlauf und Sinnleere spürt. Oder ob man ein Bedürfnis entwickelt, Werte für die kommende Generation zu schaffen und weiterzugeben – was, so Erikson, in der Regel als Bereicherung der eigenen Persönlichkeit empfunden wird.
Ich sehe das ein wenig anders: mehr Zeit für sich und ein Engagement für die Gesellschaft schließen sich nicht aus. Denn nur wer die Zeit dafür hat, in sich zu gehen, kann etwa feststellen, dass die Fixierung beispielsweise auf den Beruf ihn nicht weiterführt, sondern stagnieren lässt. Viele Menschen kommen durch das Innehalten überhaupt erst auf die Idee, sich auch für andere einzusetzen – etwa wenn sie sich die Frage stellen, welche Spuren im Leben sie hinterlassen können, auch wenn sie keine Kinder haben.
Diese Ichbezogenheit in der Lebensmitte wäre demnach eher eine Übergangsphase?
So ist es. Ich würde das als „Radikalität des Nullpunkts“ bezeichnen. Man braucht in Krisenzeiten diese Konzentration auf sich selbst, um danach wieder offen für Neues zu sein.
Dafür braucht es Zeit – bei den meisten dauert der Prozess rund zwei Jahre. Viele empfinden dann ein tieferes Bewusstsein für Spiritualität, spüren einen Bezug zu einer Kraft, die größer zu sein scheint als sie selbst. Andere entdecken neue Möglichkeiten, sich zu entfalten, erleben Beziehungen intensiver oder schätzen das Leben insgesamt mehr als zuvor.
Erhöhen die Krisen rund um die Lebensmitte also letztlich tatsächlich die Lebenszufriedenheit?
Da bin ich mir sehr sicher. Bislang ist das Thema Lebenszufriedenheit und Glück vor allem mit Religiosität und Spiritualität in Verbindung gebracht worden. Aber auch die Generativität, der Einsatz für die kommende Generation, hat dieses Potenzial. Dabei hat dieser Einsatz für andere zweifellos auch eine starke egozentrische Komponente. Im Grunde ist es purer Egoismus, dass wir uns generativ verhalten.
Wer anderen hilft, hilft auch sich selbst?
Ganz genau. Wer anderen hilft, dem geht es selber gut. Und wer das begriffen hat, der macht das auch für sich selbst.
Haben Ihre Forschungen über die Krisenanfälligkeit der mittleren Jahre auch bei Ihnen persönlich zu Veränderungen geführt?
Ich habe mein Leben im Alter von 40 Jahren radikal verändert. Ich hatte sehr früh Karriere gemacht, mit 28 den Doktortitel erworben, dazu zwei Kinder bekommen, alles im Schnelltempo. Im Anschluss kam eine therapeutische Ausbildung. Ich arbeitete dann therapeutisch und unterrichtete an einer Schule für Sozialarbeit.
Irgendwann habe ich mich die immer gleichen blöden Witze im Unterricht erzählen hören. Zudem empfand ich die Probleme der Patienten in den Therapiesitzungen als sehr belastend. Mir wurde klar, das kann ich nicht 20 oder 30 Jahre lang so weitermachen. Hinzu kam ein Bandscheibenvorfall, der mich einen Monat in die Waagerechte zwang. Da hatte ich viel Zeit, in mich zu gehen. Ich habe beschlossen, zu habilitieren und an eine Universität zurückzugehen. Und plötzlich bekam ich die Gelegenheit. Das war relativ spät, mit 40, aber ich wusste: Das will ich!
Hätten Sie der Krise vorbeugen können?
Vielleicht. Denn was ich als Therapeutin getan habe, hat mir sehr lange Freude und Erfüllung gebracht. Und ich habe versucht, daran festzuhalten. Umso frustrierter war ich, als dieses Gefühl allmählich schwand. Wer einer Krisenzeit vorbeugen möchte, sollte sich bemühen, Strukturen, Gefühle, Zustände nicht erstarren zu lassen. Vielmehr sollte man versuchen, beweglich zu bleiben, experimentierfreudig, neugierig – und die Fähigkeit stärken, seinen Selbstwert nicht allzu stark von äußeren Bedingungen abhängig zu machen.
Das macht nicht immun gegen Krisen in der Lebensmitte. Aber es hilft, diese vergleichsweise sanft zu überstehen.
Die Psychologin und Psychotherapeutin, Jg. 1952, war bis 2016 Honorarprofessorin am Institut für Psychologie der Universität Bern. Schwerpunkte ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit sind die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Beziehungen zwischen den Generationen sowie Wohlbefinden im Alter. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, unter anderem „In der Lebensmitte. Die Entdeckung des mittleren Lebensalters“ – eines mit vielen anschaulichen Beispielen und Fotos gestalteten Forschungsberichts.
https://www.geo.de/magazine/geo-wissen
Interview: Claus Peter Simon